Tina, Du sagst
laut und deutlich: ich bin jetzt alt. Keine Sprüche wie "man ist so alt,
wie man sich fühlt" oder "ich bin im Herzen jung". Aber Deine Lieder
sind nicht wirklich alt geworden. Junge Leute können immer noch Texte
auswendig bei den Konzerten, zu denen ich Dich manchmal überreden kann.
Als wir die Stücke für diese Sammlung zusammentrugen, hast Du Aufnahmen
aus verschiedensten Zeiten aneinander gereiht - nach Themen und Gefühl.
Warum nicht chronologisch, nach Aufnahmedaten?
Nicht chronologisch, weil mir aufgefallen ist, dass mir wichtiger
war, die Lieder thematisch zusammenzutun, weil die Jahreszahlen bei
meinen Liedern nicht so ´ne Bedeutung haben. Man kann ja dazuschreiben,
wann welche Lieder entstanden sind, aber das Verrückte ist – was mich
eigentlich sehr froh und glücklich macht – dass ich ganz viele Mails von
ganz jungen Leuten kriege. Von 18jährigen, 16jährigen, 20jährigen, die
meine Lieder jetzt erst zum ersten Mal im Internet gehört haben und
sagen: Warum singen Sie denn nicht mehr? – Ja, weil ick alt bin eben,
weil ick alt bin. Und eigentlich ist es egal, wann man ein Lied
geschrieben hat, wenn man es immer noch für aktuell hält – was ich
manchmal sehr traurig finde – dann soll es lieber zu einem Lied sortiert
werden, das ein ähnliches Thema beschreibt. Wenn ich mit 18 oder 16
schon wusste, was heute immer noch Scheiße ist…
Du hattest ja keine Karriere, geplant womöglich, mit Hit-Songs,
Single-Charts und in jedem Jahr `ne neue Platte…
Nee, bestimmt nicht! Es ist eben so, dass ich in der DDR überhaupt
keine Platte machen konnte, weder Rundfunkaufnahmen, also, wenn doch
mal, da musste man um jede kämpfen und auch wenn ich hingegangen bin zu
Amiga (DDR-Plattenfirma für Unterhaltungsmusik) und gesagt habe: nur
Liebeslieder! Eine Platte mit nur Liebesliedern! – Es ging nicht um die
Lieder, es ging um die Person. Und da ist es eigentlich im Jetzt, also
vom jetzigen Standpunkt aus völlig egal, wann ich ein Lied aufgenommen
oder geschrieben habe, gerade wenn ich das Gefühl habe, ich könnt` es
heute wieder schreiben. Ich hab ja auch nicht umsonst aufgehört zu
schreiben, weil ich schon lange das Gefühl habe, ich hab` wirklich alles
gesagt.
Zwei Lieder sind doppelt, aber in ganz verschiedenen Versionen, eines
davon ist "Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen". Wie war das bei der
ersten Aufnahme, noch in der DDR?
Zwei Lieder sollten auf Platte in der DDR herauskommen, also auf
einem Sampler. Ich war sehr glücklich und der Wolf Biermann, der mir
gegenüber immer sehr solidarisch war, hat seine ganze Technik zur
Verfügung gestellt und die Maultrommel gespielt bei dem Lied. Und da
hatte Amiga – ich war ja wirklich andauernd dahin gegangen und habe
gesagt: ich möchte jetzt was aufnehmen – gemeint: Naja, zwei Lieder für
so eine Sammlung. Dann habe ich die Aufnahme von Biermann praktisch
sendereif zum Amiga-Studio gebracht. Die Leute da, die Aufnehmer, kannte
ich alle vom Hootenannyklub, später in Oktoberklub umbenannt. Sie haben
dann noch einen Gitarristen, ich glaube,es war Knut Becker, und eine
Flötistin dazugemischt. Aber für mich war die Atmosphäre dort sehr
bedrückend, weil nichts frei von der Leber weg gemacht werden konnte.
"Brüderlein und Schwesterlein" ist auch aus der Zeit. Du hättest
statt eigener Lieder sogar auch wenigstens eine "unverfängliche" Platte
mit Volksliedern gemacht. Hast Du eine Ahnung, warum nicht einmal das
gelungen ist? Du schienst doch zunächst rehabilitiert zu sein, nach dem
Knastaufenthalt und der Verurteilung 1968 wegen der Flugblatt-Aktion
gegen den Einmarsch der Bruderländer in Prag. Du hattest Dich schon im
"Studio für Unterhaltungskunst" ausbilden lassen als Sängerin, fuhrst
mit dem Zug durch unser kleines Land, den Gitarrenkasten in der Hand.
Es ging an irgendeinem Punkt nicht mehr um die Lieder. Ich hätte
Schlager singen können und einen Miniminirock dabei anziehen, nichts
hätte mehr geholfen. Es ging um die Person – dazu kam, dass ich auch
immer die falschen Männer hatte, die staatlich auch immer im Visier
waren, Thomas Brasch, Klaus Schlesinger. Der ganze Personenkreis war
ihnen nicht recht. Ich konnte auch nicht von den Konzerten leben – mit
zwei Kindern zuhaus – trotz Berufsausweis, den man ja in der DDR
brauchte, um überhaupt eine Gage zu bekommen.
Es wurde auch nicht besser, je bekannter Du im Osten wurdest, es
wurde schlimmer. Stichworte "Eintopp" und "Kramladen", offene
Diskussionen mit Publikumsbeirat in Veranstaltungen, die Du organisiert
hast. Wie war das damals?
Das war ne tolle Zeit, erst haben wir das im Haus der Jungen Talente
gemacht als "Eintopp", ich war dort mit einem schriftlichen Konzept
hingegangen und durfte dann tatsächlich anfangen. Das Prinzip bestand
darin, sehr bekannte Schriftsteller, Schauspieler und Musiker mit völlig
Unbekannten auf die Bühne zu bringen. Und jeder konnte dann seine Sachen
vortragen und anschließend gab es die Diskussion mit dem Publikum über
das Vorgetragene. Ich glaub, das war das Wichtigste für die Leute, da
offen ihre Meinung zu sagen. Deshalb war der Laden auch immer gerammelt
voll.
Das gefiel dann der Leitung des Hauses nicht mehr und ich wurde wegen
Mangels künstlerischer Fähigkeiten von der Veranstaltung entbunden. Und
zwar bei dem letzten Eintopp öffentlich. Da bildete sich spontan ein
Publikumsbeirat, der entscheiden wollte, was das Publikum wollte. Mit
soviel Demokratie war die Leitung überfordert. Aber für den Eintopp war
es dennoch das Aus.
Ein Jugendklub in Weißensee bot sich an, dort die Sache unter anderem
Namen weiterzumachen, also hieß es dort "Kramladen". Da gab es dann nach
einigen Veranstaltungen Rohrbrüche und Anderes und die Veranstaltung war
danach auch dort tot.
Plötzlich kannten viele Deinen Namen - ohne Platte, ohne TV oder
Rundfunk. Dann gab es die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf
Biermanns, ein immer offenerer Eklat mit dem Staat. Was passierte mit
Deinem Berufsleben bis zur Ausbürgerung 1983? Ich weiß, daß Du noch eine
kleine Weile auftreten konntest, weil die Comedy-Gruppe MTS das Programm
"MTS und Sängerin" anbot, mein Vater Josh Sellhorn "Kurt Tucholsky &
Songs von heute". Immer ohne, daß Dein Name genannt wurde, hatte es sich
doch herumgesprochen und die Konzerte wurden immer voller, auch die in
Kirchen...
Das war dann die Zeit, wo ich eigentlich nur noch in Kirchen
auftreten konnte. Ohne Josh und MTS hätte ich nichts mehr zum
Familienunterhalt betragen können.
Wie es sich rumgesprochen hat, daß ich irgendwo singe, das weiß ich
selber nicht. In der DDR klappte das mit der Munpropaganda wahnsinnig
gut. Wahrscheinlich hat der Veranstalter es jemand gesagt und der hat es
dann einem anderen gesagt usw.
Aber einmal ist es leider auch bei den Verhinderen angekommen. Da saß
ich dann mit Josh in einem ziemlich kleinen Raum und die Leute, also das
Publikum verzog keine Mine, sie klatschten nicht und sahen uns die ganze
Zeit mit bösen Blicken an. Das fand ich ziemlich schrecklich.
Das andere Lied, das zweimal in der Sammlung ist, "Wiegenlied von der
Insel Gotland" kommt einerseits aus einer der frühen LPs im Westen und
andererseits aus einem Konzert in den 1990ern, in dem Angelo Branduardi
es mit Dir sang. Du hast ihn ja in den 1980ern kennengelernt, in der
sogenannten "Liedermacher-Hoch-Zeit". Da warst Du aus einer Sängerin im
Osten, der die Oberen Veranstaltungsreihen verboten hatten, zu einem
Star im Westen geworden. Warst mit Joan Baez, später kam Konstantin
Wecker dazu, in der Berliner Waldbühne und in anderen großen Hallen,
Tourneen, TV, Hörfunk - hast Du im Westen gedacht: Geil, hier kann ich
alles machen?
Nein. Ist mir zum Glück nie eingefallen. Und manchmal war ich
erschrocken über das Ausmaß meiner Bekanntheit. Wenn ich in dieser Zeit
mich irgendwo in ein Café gesetzt habe, konnte ich drauf warten, dass
irgendeiner kommt und fragt: Sind Sie das, sind Sie Bettina Wegner? Das
war mir irgendwie ganz fremd und ich wusste: Ich wusste immer, das das
nicht bleibt. Und das war, glaube ich, mein ganz großer Rettungsschirm.
Ich habe mir gesagt: Das ist jetzt so, weil es grad „in“ ist. Du hattest
das Glück mit dem richtigen Lied in die richtige Zeit zu kommen – zehn
Jahre vorher oder zehn Jahre später wär’ mir das nicht möglich gewesen.
Und diese Riesen-Veranstaltungen waren… also ich hab’ mich schon
gefreut, war aufgeregt, hatte auch Angst, aber irgendwie waren sie mir
fremder als im Theater oder in Räumlichkeiten, wo du das Publikum
überschauen kannst. Da ist man miteinander. Die Leute sind nicht so weit
weg und so viele.
Das dümmliche Argument, Du wärst eine Jammer-Betroffenheits-Sängerin
will ich garnicht weiter hinterfragen…
Das ist aber nett!
… weil Du schon so oft in Interviews gesagt hast, daß man in einer
glücklichen Situation sich ja eher kein Lied von der Seele schreibt und
Entertainerin wolltest Du sowieso nie wirklich sein. Auch das Argument,
daß Du das Lied "Kinder" (Sind so kleine Hände, winz'ge Finger dran,
darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann...) ja nur Leuten
vorsingst, die der gleichen Meinung sind, greift nicht, weil das
Selbstverständliche nicht oft genug gesagt werden kann. Aber warum hast
Du im Westen diese wütende, traurige Haltung in vielen Liedern
beibehalten, nachdem diese ausweglose Bedrückung durch den mißlungenen
Sozialismus für Dich vorbei war? War das am Ende nicht nur die Angst vor
den Maßnahmen einer Diktatur gewesen, sondern auch eine - fast
irrationale - Angst vor "Deutschland". Im Lied "Was ich zusagen hatte"
schriebst Du "...und dieses neue, große Deutschland macht mich stumm..."
Ich gehöre zu den Träumern, die dachten, in der kurzen Zeit der
„Wende“ könnte wirklich etwas ganz anderes passieren, etwas das nicht so
ist, wie die DDR und nicht so ist wie die Bundesrepublik Deutschland.
Ich wohne in Berlin-Frohau, dahinter die Schienen der S-Bahn, die früher
mal durchfuhr nach Oranienburg – so wie jetzt auch wieder. Als ich da
einzog, fuhr sie ja nicht. Um die Schienen herum gehörte das Gelände der
DDR, der Deutschen Reichsbahn, und das war auch ein kleines Stück in
meinem Garten. Und wenn ich ganz dolle Sehnsucht hatte, bin ich da immer
hingelaufen und hab gesagt: Ätsch, ich bin doch in der DDR!
Ich habe mich verloren gefühlt nach der Ausbürgerung und dementsprechend
sind meine Lieder nicht lustiger, sondern auf einer anderen Schiene so
geblieben wie sie immer waren. Ich schrieb weiter eben das, was mich
bedrückt hat. Mein Vorteil war, dass ich mir von Projekt BRD nie viel
versprochen habe.
Bis heute fühle ich mich nicht zuhause, in keinem Teil von Deutschland.
Theodor Kramer hat einen schönen Text geschrieben: Wem die Wurzeln
weggehauen sind, dem wachsen sie nicht nach. Als Kind und bis irgendwann
hab’ ich die DDR als Heimat empfunden – und es gibt keine mehr. Ich
meine jetzt nicht die DDR, ich meine, es gibt keine Heimat mehr. Ich bin
wurzellos, also könnte ich eigentlich mit meinem Laub überall hin, aber
Heimat? Gibt’s nicht mehr.
Die deutsche Vergangenheit bekommen wir nicht aus dem Kopf. Und die
verlorenen Hoffnungen des real-existierenden Sozialismus auch nicht.
Aber diese parlamentarische Demokratie im Westen war doch auch 1983
schon wesentlich entspannter…
Ich war froh und erleichtert, dass ich singen konnte, was ich wollte.
Und alle wussten ja, im Grunde ändert doch kein Lied irgendwas
Politisches. Aber auch das ging ja nur bis zu einem bestimmten Punkt.
Also, ich konnte Platten machen – bis eines Tages die Herren von der
Plattenfirma kamen und sagten: Ja, das ist ja alles so traurig bei Ihnen
und so, da sollten Sie mal ein bisschen weniger von machen und Ihr
„Image“ ändern und Ihr „Outfit“. Und da saß einer von den beiden Herren
am Tisch und hatte so enge Lederhosen an, die ich ganz schrecklich
finde, und da habe ich zu ihm gesagt: wissen Sie die Hose, die Sie
anhaben, die finde ich unglaublich hässlich. Sie sind ein erwachsener
Mensch, Ihnen gefällt sie offensichtlich, ich würde nie die Frechheit
besitzen zu sagen „Was haben Sie denn für Scheiß-Hosen an!“
Es waren ganz andere Grenzen, solche die ich nicht kannte. In der DDR,
wer da aufgewachsen war, wusste, was alles nicht ging. Wenn Du auch nur
mit dem großen Zeh über eine Grenze übertratest, war klar, dass da jetzt
eine grundsätzliche Grenze überschritten wurde. Im Westen war mir das
erstmal nicht so klar. Da ging’s dann um Verkaufbarkeit, Outfit und
Risiko.
Zum Beispiel gleich am Anfang. Ich saß inner Plattenfirma in Frankfurt
am Main, bei der CBS, und es kam Mama-Concerts, die eine Tournee
planten, und ich saß zwischen dem Mann von der Plattenfirma und dem
Konzertveranstalter. Dann fingen die an, sich über meine Honorierung zu
unterhalten, sie fingen an, sich zu streiten: der Plattenmensch sagte
immer „ja, aber sie ist unser Produkt, sie ist unser Produkt!“ Der
andere sagte „ja, aber sie ist unser Risiko!“ Und ich saß dazwischen,
Produkt, Risiko… Aber wo war ich denn? Wo bin ICH denn?
Deine Stimme ist noch immer so schön und stark, Du singst auch noch
immer gerne. Warum der Abschied vom Tourneeleben vor 10 Jahren?
Es kamen drei Sachen zusammen, ich hatte gesundheitlich, vom
Rücken her, totale Schwierigkeiten. Alles war immer anstrengender für
mich geworden. Das zweite war, dass ich ab 2008 meinen Vater zu mir
genommen habe und ich wusste, dass man das nicht schaffen kann: auf
Tournee zu gehen und den Papa zu versorgen. Und das dritte war, daß mir
der Beruf inzwischen vorkam wie ein Nuttenberuf. Ich kam mir vor, wie
eine Prostituierte, wo gefeilscht wurde um den Preis. Und ich dachte
immer, meine Güte: Ich singe doch nicht schlechter, eher besser als
früher. Und hab gedacht, da kann ich mich gleich an den Bahnhof Zoo
stellen und sagen „ich bin zwar alt, aber ich kann’s besser als viele
Jungschen. Bitte nehmt das zur Kenntnis.“ Es war nicht mehr das, was ich
mir als Beruf vorgestellt hatte. Und Prostitution ist noch nie mein
Wunschberuf gewesen.
Und später hast Du mich eben überredet, schöne Sachen, wo nicht
gehandelt wird, gemeinsam zu machen. Ganz aufhören, glaube ich, kann
jemand, der so verwirkt ist mit dem Beruf und so verhangen darin, nicht.
Und sagen: Jetzt singe ich nie wieder! Nein. Und es ging ja auch nicht
um das Singen, es ging um Tourneen und Solo-Konzerte. Das gibt es seit
2008 nicht mehr.
Vor Deinem Wunschlied "Wenn alle Menschen dieser Erde" sagst Du oft
in Konzerten: "Ich weiß, daß sich meine Wünsche und Träume in meinem
Leben nicht mehr erfüllen werden..." und meinst damit vor allem eine
politisch friedliche, bessere Welt. Hast Du trotzdem ein Bild von der
Zukunft, so ähnlich wie es einst unsere Eltern von der kommunistischen
Zukunft hatten? Nicht nur als Wunsch?
Nein. Habe ich nicht mehr. Im Gegenteil.
Immer noch würde ich sagen: ich wünsche mir… Aber je älter ich werde und
je länger ich Zeit habe die Erde und die Menschen, die auf ihr leben,
anzugucken, ist es so, dass meine Wünsche immer bescheidener werden. Der
einzige Wunsch, den ich eigentlich noch übrig habe ist, dass die
Menschen sich einfach als Menschen behandeln. Und nicht eine Fraktion
über die andere sagt: das sind Tiere. Das, was in unserer Welt zur Zeit
geschieht, gereicht nicht gerade dazu, die Hoffnung groß zu halten. Es
reicht gerade noch dazu, ein bisschen festzuhalten von der Hoffnung. Ich
möchte nur, dass die Menschen sich als Menschen behandeln und begreifen.
Mehr nicht.
Das Interview führte Freund und
Kollege Karsten Troyke im Sommer 2017
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